
2000 Jahre Heilkunst – Die Geschichte der TCM-Rezepturen
- André Weber
- 20. Juni
- 2 Min. Lesezeit
Wenn wir heute ein Rezept der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) verwenden – sei es als Dekokt, Granulat oder moderne Mischung –, greifen wir auf ein beeindruckendes System zurück, das über Jahrtausende gewachsen ist. Hinter jeder TCM-Rezeptur steckt ein Schatz an Beobachtung, Erfahrung, Philosophie und therapeutischem Feingefühl. Doch wie begann eigentlich alles? Wer hat die ersten Rezepturen geschrieben, und wie hat sich das Wissen über Jahrhunderte strukturiert?
Die Anfänge: Schamanen, Fangshi und Bambustafeln
Bereits zur Zeit des archaischen Königtums (16. Jh. bis ca. 1066 v. Chr.) spielten Arzneimittel eine wichtige Rolle. Die damalige Heilkunde war eng mit schamanistischen Praktiken verwoben. Zubereitungen wie medizinische Weine und Dekokte (Abkochungen) waren verbreitet.
Mit der Zeit entwickelten sich spezialisierte Heiler, sogenannte Fangshi („Meister der Rezepturen“ oder „Meister der Techniken“). Diese wanderten von Fürstentum zu Fürstentum und brachten ihr Wissen über Kosmologie, Philosophie und Pflanzenheilkunde mit sich. Ihre Rezepte wurden auf Bambustäfelchen niedergeschrieben – in Reimform und mit einer tiefen Verbindung zur Harmonie zwischen Mensch und Kosmos.
Der Mawangdui-Korpus und die „Rezepte gegen 52 Erkrankungen“
Ein bedeutender Meilenstein war der Fund des sogenannten Mawangdui-Korpus, bestehend aus 15 medizinischen Texten. Darin enthalten ist die älteste erhaltene Rezeptsammlung: die „Rezepte gegen 52 Erkrankungen“. Dieses Werk enthält 94 Rezepturen für äußere und innere Anwendungen – eine unglaubliche Sammlung von Wissen, das bereits über 224 Arzneimittel beschreibt.
Die darin verwendeten Therapien belegen nicht nur eine weit entwickelte pflanzenheilkundliche Praxis, sondern zeigen auch, dass schon damals zwischen Krankheitsursachen differenziert wurde – obwohl Systematiken wie Yin/Yang oder Wandlungsphasen noch nicht voll entwickelt waren.
Von der Theorie zur therapeutischen Ordnung
Mit dem sogenannten „Inneren Klassiker des Gelben Fürsten“ (Huangdi Neijing) beginnt um 200 v. Chr. eine neue Epoche. In den darin enthaltenen Werken wie dem Suwen und Lingshu werden die Grundlagen der Wandlungsphasen, Meridianlehre und Diagnostik systematisch beschrieben. Hier zeigt sich erstmals eine bewusste Verknüpfung zwischen Rezepturen, energetischen Mustern und therapeutischer Strategie.
Sun Simiao – der König der Rezepturen
Im 7. Jahrhundert verfasste Sun Simiao, einer der bedeutendsten Ärzte der TCM, die Sammlung „Rezepturen, die das Herz erfreuen“ sowie „Ergänzende Rezepte, die genauso wertvoll wie Goldstück sind“. Diese Werke enthalten nicht nur hunderte Rezepturen, sondern auch Anleitungen zur Lebenspflege (Yangsheng) und zur präventiven Gesundheitsführung – Themen, die heute aktueller sind denn je.
Struktur und Systematik – Der Weg zur heutigen Rezeptklassen
Mit dem Werk „Gesammelte Erläuterungen zur medizinischen Rezeptur“ (1682) von Wang Ang wurde die bis heute gebräuchliche Einteilung klassischer Rezepturen geschaffen. Diese Systematik diente später auch als Grundlage für moderne Werke – beispielsweise für die Ausbildungsstandards in der Shanghaier Akademie für TCM seit den 1970er-Jahren.
Auch die berühmte „Systematische Drogenkunde“ von Li Shizhen aus der Ming-Zeit, mit über 10.000 Abbildungen und Beschreibungen von mehr als 1800 Einzelsubstanzen, zeigt: Die TCM ist nicht nur Heilkunst, sondern auch ein tiefgründiges System naturwissenschaftlicher Beobachtung.
Fazit: Jede Rezeptur ein Stück Geschichte
Jede TCM-Rezeptur, die wir heute einsetzen, ist mehr als eine Mischung aus Kräutern – sie ist ein Stück Medizingeschichte. Sie basiert auf Jahrtausenden von Erfahrung, Philosophie und dem Streben, Gesundheit ganzheitlich zu verstehen.
Wer also eine klassische Rezeptur anwendet, verbindet sich unweigerlich mit einer langen Kette von Heilerinnen und Heilern, die mit Respekt, Achtsamkeit und tiefer Kenntnis gewirkt haben. Dieses Wissen lebendig zu halten und zugleich mit modernen Erkenntnissen zu verbinden – das ist die Aufgabe unserer heutigen Zeit.
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